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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Der Histrio


raschomon
2006-04-05, 22:21:08
Hallo!

Heute hat hier jemand nach der Möglichkeit/Notwendigkeit professioneller psychotherapeutischer Hilfe gefragt. Mir ist in diesem Zusammenhang wieder ein Buch eingefallen, das ich vor einigen Wochen las:

Winterhoff-Spurk, Peter: Kalte Herzen
http://www.libri.de/shop/action/productDetails?artiId=3109820&nav=1

In aller Kürze. Der Wissenschaftler konstatiert in unserer hektischen Mediengesellschaft das Auftreten eines neuartigen Persönlichkeitstypus - des "Histrio" bzw. des "histrionischen Charakters". Dabei handelt es sich um Menschen, die meinen unter einem chronischen Beachtungs- und Aufmerksamkeitsdefizit durch ihre Umgebung zu leiden. Sie suchen krampfhaft nach Möglichkeiten diese Aufmerksamkeit auf ihre Person, ihre Probleme zu lenken - nehmen auch in Kauf sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Medien also auch das Netz, insbesondere aber die audiovisuellen Medien helfen ihnen bei ihren Selbstinszenierungen.

Zum Begriff des Histrio noch ein ergänzender Text (schnell ergoogelt): http://www.mentalpsychologie-netz.de/gesellschaft/dekadenzundverfall/poweredbyemotions.php4

Hier soll nicht über eine bestimmte Person referiert werden, sondern über ein soziales Problem gesprochen werden. Ja, gibt es das Problem überhaupt, oder handelt es sich nur um eine kurze Konjunktur aus dem Arsenal der psychischen Störungen, wie schon so viele kamen und gingen?

Sind wir nicht vielleicht alle Histrios? Steckt der Wunsch nach Beachtung und dem warholschen 15-minütigen Ruhm nicht in uns allen?

Discuss it!

Ralph

~SpitFire~
2006-04-06, 02:05:20
Ich denke mal, dass wir alle gerne beachtet werden.

Denn es will ja schließlich keiner ausgeschlossen werden und das Gegenteil von nicht beachtet werden ist ja wohl beachtet werden. :)

Als Defizit würde ich sowas allerdings nicht bezeichnen, sondern eher als natürliches Verhalten, wenn man versucht, bei den anderen gut anzukommen oder das bisherige Bild, welches sie durch einen bestimmten Vorfall von dir haben, zu ändern.

atlantic
2006-04-06, 08:09:39
Ich würde auch sagen, das JEDER in irgendeiner Form nach Beachtung/Anerkennung/Verständnis/Liebe strebt. Mit der Verwendung der heutigen Medien ist das Ganze einfacher geworden, obwohl man damit eigentlich nicht das wirklich erreicht, was man eignetlich anstrebt. Man strebt ja dauerhaftes an, die Medien sind aber zu schnelllebig, als das sie dieses erfüllen könnten.

Im RL geht man natürlich das Risiko ein, unter Umständen direkt auf das Gegenteil, nämlich Ablehnung, eingehen zu müssen, was schon eine starke Persönlichkeit vorraussetzt, will man das immer ohne Schaden überstehen. Im Netz sieht das da schon besser aus. Man ist anonym, und der Geist sagt einem im Zweifelsfall, das die eventuelle Ablehnung ja virtuell ist, weil einen der andere eben nicht physisch kennt. Man kann also viel leichter von einem Irrtum ausgehen. Deshalb überschreiten manche auch vielleicht leichter die Grenze zur Lächerlichkeit.

Ich denke, chronisches Aufmerksamkeitsdefizit hat es auch ohne die neuen Medien schon immer gegeben. Man denke nur an die Institution des Klassenclowns. Meist ein mittelmäßiger bis schlechter Schüler, oft auch nicht unbedingt ein Adonis. Aber die Rolle des Klassenclowns ist eben sein Instrument um Aufmerksamkeit zu erzielen, die er durch andere Attribute nicht erzielen kann.

Thowe
2006-04-06, 14:25:28
Letztendlich sucht jeder seinen Platz in der Gesellschaft und in einer, wo das Individium im Nichts der Masse untergeht, mag das durchaus verständlich sein, das es Personen gibt, die derart um Aufmerksamkeit betteln.

Frei ist davon keiner, aber man kann sich sicherlich bis zu einem gewissen Grad davon frei machen. Alleine wenn man diesen beliebten Spruch: "Ich hab erst mal mit meinem Partner schluss gemacht um mich meiner Karriere zu widmen" hört, sollten sich einen die Nackenhaare kräuseln. Verloren hat für mich schon jeder, der das nachvollziehen kann.

Der Mensch taugt wohl nicht, wenn er alle Gefühle nur auf sich selbst projiziert. Gesellschaftliches Ansehen, gekauft aus einer Mischung aus Mitleid und Neid, viel mehr ist da wohl nicht drin.