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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Die deutsche Hysterie


Chemiker
2010-10-23, 13:36:36
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/die_lust_an_der_politischen_schweinegrippe_1.7679192.html

Eine sehr gute Analyse der politischen Zustände in Deutschland. Das mediale Theater, die tägliche Hysterie wird als als Theater erkannt, welches der Unterhaltung der Bürger dient. Diesen soll die Unentbehrlichkeit der Politiker vermittelt werden. Die Zuspitzungen dienen der Erzeugung der Illusion von Unstimmigkeiten, also der Existenz echter Diskussionen bedingt durch wirklich unterschiedliche Meinungen und Zielrichtungen der Parteien und Politiker. Es soll der, dennoch stärker werdende Eindruck, vermieden werden, die Parteien zögen letztlich alle an einem Strang und folgten eigenen Interessen.
Die Parteien empfinden sich als Aristokratie, der Bürger hat zu folgen und nicht mitzureden. Kann man jeden Tag in diversen Interviews lesen.
Wer die Politik kritisiert ist Nazi, ungebildet oder gleich geisteskrank. Nie wird eine Entscheidung in Frage gestellt, stets gab es nur Probleme "dem Bürger die Alternativlosigkeit/die absolute Notwendigkeit zu vermitteln". So wie z. B. die Durchsetzung von Stuttgart 21 entscheidend ist für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands, die Demokratie, die Rechtstaatlichkeit und am besten noch den Weltfrieden ist.

Hier ein kleiner Auszug:

"Was bei solchen Medienspektakeln zum Ausdruck kommt, ist allerdings praktisch ausschliesslich die Ansicht der Elite. Das Volk denkt anders. Deutschland ist eine Parteiendemokratie. Der Bürger wählt die Hälfte des Bundestags direkt, darüber hinaus hat er wenig zu sagen, seit dem Krieg misstraut man ihm grundsätzlich. Die meisten Parteien behaupten zwar, sie wollten diesen Zustand ändern, und rufen ausgiebig nach mehr Plebisziten, auch auf Bundesebene. Aber konkret tun sie nichts – wollten sie wirklich etwas ändern, sie hätten es längst getan. Das öde Theater, das Politiker und Medien aufführen, dient der Unterhaltung einer äusserst passiven Mehrheit. Suggeriert wird zum einen die Wichtigkeit der Materie und zum andern die Unentbehrlichkeit der Politiker.

Das Volk durchschaut das Spiel, langweilt sich, ärgert sich und verfällt notgedrungen dem, was man als «Politikverdrossenheit» bejammert. Äussert es sich doch einmal, ändert sich das Bild schlagartig. Wer wissen will, was die Deutschen wirklich denken, der schaue ins Internet, in die Blogs..."

Sehr lesenswert, gut erkannt. Eine Klasse die ich nicht einer deutschen Zeitung zutraue.
Sind ja auch die Schweizer. Dieses schreckliche Land wo die Todesstrafe herrscht, man Mauern bauern muss damit die Leute nicht weglaufen, es keine Rechtssicherheit gibt und alles total im Argen liegt weil die Bürger dort mitentscheiden können und nicht von einer selbstverliebten Elite beherrscht werden...;D

Pana
2010-10-23, 13:40:24
Der tägliche Blick in die deutschen Gazetten verrät mir jeden Tag auf's Neue: Es ist alles ok.

Wenn modische Entscheidungen von Politier-Gattinnen debattiert werden, Die Kinderporno-Sau ohne Diskussionsgrundlage durch das Land gejagt wird, jeder zweite Satz aus dem Munde eines Politikers mit "Es kann / darf nicht sein, dass ... " anfängt, so lange ist alles im grünen Bereich.

Die Hysterie hat etwas sehr beruhigendes.

klein
2010-10-23, 14:13:42
Man nennt das Phänomen auch "Polit-Boulevardismus". Ist jetzt allerdings nichts Neues. Zeitungen müssen irgendetwas drucken, Sender irgendetwas senden. Liegt in der Natur der Sache. Und wenn soweit eigentlich alles ok ist im Lande, bläht man eben jeden Pups zu einem Thema auf. Ich habe BSE, die Vogelgrippe und die Schweinegrippe überlebt. Der LHC hat noch kein schwarzes Loch verursacht, das uns alle frisst. Die immerwiederkehrende Diskussion zu "Tempolimit 130 auf Autobahnen" ist mal wieder vergessen, genau so wie die drohende Verknappung der Erdölreserven, als Rohöl bei 150 $ je Barrel lag und Sprit 1,60 € kostete. An die Amokläufer erinnert sich keiner mehr, Opel sind wir immer noch nicht losgeworden, "DIE GRÖSSTE KRIIIIISE ALLER ZEITEN" ist wieder vorbei, wir befinden uns mitten im Aufschwung, der DAX steht bei 6.600 Zählern, der Absturz des Euros durch "GRIEEEEEEEEEECHENLAND" ist hinausverzögert, der Euro steht wieder bei 1,40 Dollar. Am Liebsten haben mir die Wirtschaftsexperten gefallen, die urplötzlich unser ganzes Wirtschaftssystem in Frage stellten. Allen voran Bernd Senf, der allen zeigen durfte, dass er verstanden hat, was eine Exponential-Funktion ist. Im Moment ist "Integration" mal wieder der Talkshowfüller und nachdem sich alle eine Runde wichtig gefühlt haben, als sie mit "Sarrazin hat recht" oder "Sarrazin ist ein Arschloch" im Internet einen hochintellektuellen Diskurs führten, so hat sich doch in Wirklichkeit genau nichts geändert – bis die nächste "Steuerdaten-CD" auftaucht.

"Stuttgart 21" ist übrigens auch witzig anzusehen. Jetzt dürfen also alle Parteien auch mal mitdiskutieren, bevor der Bahnhof letztendlich gebaut wird. (y)

sei laut
2010-10-23, 15:11:56
"Stuttgart 21" ist übrigens auch witzig anzusehen. Jetzt dürfen also alle Parteien auch mal mitdiskutieren, bevor der Bahnhof letztendlich gebaut wird. (y)
Gebaut ist er eh schon. Zumindest in den Köpfen derer, die was zu sagen haben.

Frankreich zeigt doch sehr schön, was Demokratie heißt - nichts. Die Proteste sind mit 3 Millionen (auf Deutschland umgerechnet 6 Millionen) nicht gerade klein und trotzdem wirds durchgezogen. Muss einfach sein, das war von Anfang an klar. Aber die Bevölkerung hat alles gegeben.

Edit: Schöner Artikel, die Sicht von außen ist immer erfrischend.

Chemiker
2010-10-23, 16:00:56
Hier ein Leserkommentar zu einem Zeit-Artikel zum selben Thema nur von anderer Seite betrachtet:
http://www.zeit.de/2010/43/01-Buerger-Medien-Demokratie?commentstart=25#cid-949075

Ich dachte ich hätte den Thread im PoWi-Forum eröffnet...:-/